Jeden Podcast, den ich höre, beurteile ich nach dem ersten Satz.
Zugegeben, das ist etwas übertrieben. Aber wirklich nur ein wenig. Erste Sätze sind wichtig, nicht nur in der Literatur. Auch in einem Storytelling-Podcast entscheide ich innerhalb von Sekunden, ob ich mich in die Geschichte hineinziehen lasse. Und viel zu oft machen sie es mir schwer.
Ich möchte kein Preview auf die besten Szenen der Folge – vielleicht sogar des ganzen Podcasts – hören! Erstens ist das langweilig, weil ich noch überhaupt keine Ahnung habe, warum mich diese kontextlosen Snippets interessieren sollten. Zweitens sind diese Einstiege faul und ein Zeichen von Unsicherheit. Die Macher:innen scheinen kein Vertrauen in ihr Storytelling zu haben – oder in diejenigen, die ihnen zuhören. Sie scheinen große Angst davor zu haben, uns gleich am Anfang zu verlieren, wenn sie uns nicht direkt zum Einstieg um die Ohren knallen, was sie selbst als Highlights ihrer Erzählung identifiziert haben. Eigentlich sogar ziemlich bevormundend, wenn ich’s mir recht überlege. Mindestens uninspiriert.
Dann gibt es noch einen anderen Standard-Anfang, der kaum weniger langweilig ist. Hier steigt der oder die Host mit dem Datum der Handlung, manchmal sogar mit der exakten Uhrzeit, ein. Es folgen möglichst konkrete Beschreibungen des Wetters. Besonders beliebt sind hier Variationen der Kombination Dunkelheit und Regen. Vermutlich, um eine möglichst mysteriöse Atmosphäre zu erschaffen. Anschließend wird eine Szene beschrieben. Häufig, indem uns anonymisierte Handelnde präsentiert werden. Da macht „ein Mann“ oder „eine Frau“ irgendetwas, das wir noch überhaupt nicht einordnen können. Trotzdem wird es möglichst detailgenau und ausschweifend beschrieben. Mit Glück, wird das dann alles irgendwann irgendwie aufgelöst und in die eigentliche Geschichte einsortiert. Zu diesem Zeitpunkt bin ich allerdings schon mit den Gedanken abgedriftet und muss mich ziemlich zusammenreißen und konzentrieren, um wieder reinzukommen.
Es ist nicht so, dass ich etwas gegen Daten, Uhrzeiten oder Wetterbeschreibungen hätte, auch nicht in Podcasts. Aber sie sollen kein unnützes Wissen sein, das meine Aufmerksamkeit absorbiert. Wenn sie erzählt werden, sollen sie halt bitte auch einen Bezug zur und eine Relevanz für die Geschichte oder den erzählten Moment haben. Die naheliegende Frage lautet also: Was ist ein guter Anfang für einen Storytelling-Podcast? Um das veranschaulichen zu können, habe ich drei erste Sätze aus Podcasts herausgesucht, die mich besonders begeistert und bis heute geprägt haben.
1. „The first record I made was All Analog. It wasn’t a choice. That’s just how it was done in the 80s.“
Zunächst einmal: ja, ich weiß, es sind drei Sätze. Immer gut, wenn man sich schon beim ersten Beispiel widerspricht. Aber sie sind ja auch wirklich sehr kurz. Tatsächlich würde das, was ich hier demonstrieren will, auch nur mit dem ersten Satz funktionieren. Aber ich will hier ja einen Punkt machen und mich nicht im Kleinkarierten verlieren. Also …
Dieser Anfang stammt aus Ways of Hearing, eine Miniserie, die großen Anteil daran hat, dass ich heute Podcasts mache. Sie erzählt im essayistischen Stil über sechs Folgen, von etwas ziemlich Abstraktem; dem Wandel vom analogen zum digitalen Zeitalter und wie wir diese Transformation – wortwörtlich – wahrnehmen. Zugegeben, klingt eigentlich nicht soo spannend für Menschen, die keine Tech-Nerds sind. Ich bin auch keiner. Aber ich habe mir damals nicht nur das Buch zum Podcast bestellt, weil ich wissen wollte, wie man so ein Skript schreibt, sondern sogar alle Folgen auf Bandcamp gekauft. Einfach, um den Macher zu unterstützen. Wow.
Warum ist dieser Einstieg also so perfekt für den Podcast? Zunächst einmal hat er einen geradezu musikalischen Rhythmus, er klingt einfach gut. Weil die knappen Sätze so eindeutig, reduziert und minimalistisch sind, wirken sie poetisch. Aber natürlich ist das nicht alles. Der Anfang erzählt in diesen drei kurzen Sätzen die gesamte Prämisse. Es geht um einen Musiker oder zumindest eine Person, die Alben aufnimmt, beziehungsweise aufgenommen hat. In den 1980ern. Ist also schon länger her. Die Person ist demnach vermutlich heute im mittleren Alter. Da diese Person in den 1980ern Platten aufgenommen hat, ist es wahrscheinlich, dass sie sogar einen gewissen Bekanntheitsgrad hat oder hatte, zumindest in einer gewissen Szene. Denn die Hürden, eine Platte aufzunehmen, waren zu dieser Zeit deutlich höher als heute – schon aufgrund der technischen Gegebenheiten. Man benötigte dafür ein richtiges und superteures Tonstudio. Was zum nächsten Punkt führt. Platten wurden damals analog aufgenommen. Alle. Die Musik wurde also auf einem physischen Medium, wie ein Tonband oder einer Schallplatte gespeichert. Während eine digitale Aufnahme die eingehenden Signale in Computersprache umwandelt (also in Nullen und Einsen), werden sie bei der analogen Aufnahme unmittelbar und direkt aufgenommen. Dass es keine freie Entscheidung war, auf diese Art und Weise aufzunehmen, bedeutet auch, dass die Person sich vielleicht anders entschieden hätte, wenn es möglich gewesen wäre. Damit sind wir dann auch schon mitten im Thema. Der Erzähler, Damon Krukowski, war Schlagzeuger in der US-Indieband Galaxie 500, die Ende der 1980er aktiv war. Sie hatte durchaus einen gewissen Einfluss auf Generationen von gleichgesinnten Bands, die nach ihr kamen und ihren Stil weiterentwickelt haben. 2017 hat Krukowski in Ways of Hearing davon erzählt, wie sich das Hören und die Hörgewohnheiten durch digitale Aufnahmen und Übertragungen verändert haben und welche Auswirkungen das auf uns als Hörende hat. Aus seiner persönlichen Sicht als Musiker, aber auch auf der Grundlage zeitgeschichtlicher und wissenschaftlicher Fakten.
All das, was ich in diesem langen Absatz beschrieben habe, steckt in diesen ersten Sätzen. Sie ziehen uns direkt in ihre Welt hinein, sind konkret genug, um uns diese Welt zu vergegenwärtigen, geben Hinweise auf die spezifische Thematik und lassen doch genügend Raum, um uns neugierig darauf zu machen, was in den kommenden zweiundzwanzig Minuten und vierundvierzig Sekunden erzählt werden wird.
2. „For the last year, I’ve spend every working day trying to figure out where a high school kid was an hour after school one day in 1999.“
Klar, dieser Einstieg stammt aus einem der erfolgreichsten Storytelling-Podcast aller Zeiten: Serial. Ein Klassiker. Und er beginnt mit einem ziemlich langen Satz. Den würden uns heute die „Schreiben fürs Hören“-Coaches wahrscheinlich sofort rausstreichen. Aber wenn es die – auch 2014 schon – sehr erfahrene Sarah Koenig macht, dann funktioniert er halt doch ziemlich gut. Sehr gut. Was können wir also aus diesem Satz herauslesen?
Die Ich-Erzählerin scheint eine aktive Protagonistin und damit ein fundamentaler Teil dieser Geschichte zu sein. Eine Erzählerin, die ein Jahr lang jeden (!) Arbeitstag damit verbracht hat, herauszufinden, wo eine bestimmte Person zu einem gewissen Zeitpunkt gewesen ist. Es muss also Teil ihres Jobs sein, diese oder ähnliche Dinge zu tun. Ist sie Kriminalkommissarin? Detektivin? Journalistin? Wir werden bald merken: Irgendwie alles davon. Aber zuerst einmal: Journalistin.
Wir erfahren nicht nur, dass der Podcast von einem ganz konkreten Tag handelt, sondern einer ganz bestimmten Stunde im Jahr 1999. Die Host versucht oder hat versucht herauszufinden, was ein bestimmter Schüler, in diesem Zeitraum getan hat. Damit ist nebenbei auch die „Highschool-Welt“ gesetzt, in der die Handlung stattfinden wird. Die kennen wir auch hier ziemlich gut, aus Serien und Filmen. Was kann da passiert sein, dass sich eine Person ein ganzes Jahr lang beruflich damit beschäftigt, was ein Schüler in einem klar definierten Zeitfenster gemacht hat – und zwar fünfzehn Jahre später? Es muss schon etwas schwerwiegendes gewesen sein. Die Hinweise und unsere Erfahrungen aus Serien, Romanen und Zeitungsartikeln deuten darauf hin, dass es sich um ein Verbrechen handeln könnte, das möglicherweise noch immer nicht vollständig aufgeklärt ist. Und wenn wir nun noch einmal rein formal auf die komplexe Struktur dieses ersten Satzes schauen, könnten wir diese auch so interpretieren: Der Fall – und damit der Plot dieser Podcasterzählung – scheint ziiiiiemlich verschachtelt zu sein. Und wir?
Sind hooked!
3. „The Women are seeking fertility treatment for a variety of reasons.“
Dieser erste Satz stammt aus meinem absoluten Podcast-Highlight 2023, The Retrievals von Susan Burton. Auch ein Ableger der Serial-Reihe. Im Vergleich zu den anderen beiden Podcast-Anfängen, nimmt sich die Erzählerin hier komplett zurück. Statt von „I“, ist hier von „The Women“ die Rede. Es geht also um Frauen, die in einer Klinik an einer Fruchtbarkeitsbehandlung teilnehmen. Sehr unterschiedliche Frauen, die alle unterschiedliche Gründe haben, sich dieser (wer sich auskennt, sehr schmerzhaften) Behandlung zu unterziehen. Wir können uns also auf diverse Protagonistinnen einstellen, die alle eine ganz bestimmte Sache gemeinsam haben, vielleicht nur diese eine. Aber wir werden erfahren, warum sie sich für diesen Weg entschieden haben und vermutlich auch mehr über ihre persönlichen Lebensumstände. Wer den Podcast kennt, könnte nun einwerfen, dass ein ganz entscheidender Teil der Story hier noch im Dunkeln bleibt, eigentlich sogar der entscheidende. Aber er ist da, wird zumindest angedeutet. Mit einem einzigen, unscheinbaren Wort, das ihre unterlegene, verletzliche, ja auch abhängige Position in dieser Anordnung andeutet: „they are seeking“. Das bedeutet, dass sie hoffen etwas zu erhalten, das nicht in ihrer Macht liegt. Und dieser Umstand deutet den Konflikt bereits an, der sich im Laufe der fünf Episoden des Podcasts entfalten wird.
Was haben alle diese drei Podcastanfänge gemeinsam?
Sie machen klar, aus wessen Perspektive erzählt wird
Sie bereiten uns auf das Thema und die Welt der Geschichte, um die es gehen wird, vor …
… lassen aber genügend Interpretationsraum, um unsere Neugier anzustacheln
Wir wissen noch nicht, wovon genau die folgende Geschichte handeln wird, aber die Sätze sind so formuliert, dass wir unbedingt mehr hören wollen. Wir wollen erfahren, was dahintersteckt und wie es weitergeht
Letzten Endes funktionieren diese Sätze als kleine Cliffhanger. Aber nicht im klassischen Sinn. Sie arbeiten auf keinen dramatischen Höhepunkt hin, um dann brutal abzubrechen. Vielmehr ziehen sie uns in die Geschichte hinein. Und wenn die Geschichte im Ganzen so gut erzählt ist, wie ihr Anfang, werden wir uns daran wie an einem starken Tau entlang ziehen. Ganz freiwillig, weil wir wissen wollen, was uns am anderen Ende erwartet
Wenn in diesen Anfangssätzen Zeitangaben gemacht werden, dann nur, weil diese essenziell für das Verständnis der Geschichte sind
Ohnehin überlassen diese Sätze nichts dem Zufall; jedes Wort, jede Formulierung, ist mit Bedacht gewählt
Der Erzählstil macht uns also schon von Anfang an klar, was uns im Folgenden Erwarten wird
Das Ganze klingt jetzt ziemlich verkopft. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man am „richtigen Anfang“ regelrecht verzweifeln kann. Ich glaube auch nicht, dass man über all diese Punkte nachdenken muss, wenn man den „richtigen Anfang“ sucht. Es kommt nur darauf an, diese Punkte verinnerlicht zu haben. Dann kommt es schon – zumindest irgendwann – ganz von alleine. Denn eins haben die Anfänge dieser drei Podcasts auch gemeinsam: sie wirken nicht angestrengt. Sie klingen natürlich. Sie scheinen geradezu in sich zu ruhen.
Ich glaube, letztendlich müssen solche Sätze aus dem Bauch herauskommen. Mehr noch: Ich glaube sogar, dass sie inhaltlich gar nicht so offensichtlich all diese vielen Punkte abarbeiten müssen, die ich oben genannt habe. Letzten Endes müssen wir uns beim Anfangen einfach völlig klar darüber ein, was wir erzählen und wohin wir die Hörer:innen bei dieser Reise führen wollen. Selbstbewusst und persönlich. Der Rest kommt dann vermutlich ganz von alleine. Das ist wohl die Kunst.
Schreibt mir gerne.
Bis zum nächsten Mal.
Jens
Tolle Beispiele und du hast total recht: mich verlieren auch schon viele Podcasts, weil mir der Anfang zu wirr, lang oder sentimental ist. Deinen Post speichere ich mir auf jeden Fall ab!